In Sanliurfa übernachtete ich in der historischen Altstadt bei einem älteren kurdischen Ehepaar. Ich erfuhr viel über das traditionelle Leben, nicht alles davon konnte ich akzeptieren.
Heilige Fische, die man nicht essen sollte
Ich warf meine Sachen ab und schaute ich mir Balikligöl an, einen künstlichen Teich in Sanliurfa voller „heiliger Fische“. Die Geschichte hat ihren Ursprung im Koran und besagt, dass Gott den Propheten Abraham rettete, als der auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollte, indem er das Feuer in Wasser und das Holz in Karpfen verwandelte. Angeblich wird jeder blind, der einen dieser Fische isst, ich habe es lieber nicht ausprobiert.
50 Kilometer neben dem Krieg
Als ich vor ein paar Tagen von Kappadokien aus Richtung Süden aufbrach, ging das Gerücht um, dass es in Sanliurfa nicht sicher sei, weil 50 Kilometer weiter hinter der syrischen Grenze ISIS gerade Ain al-Arab belagert. Diese Befürchtung stellte sich als unbegründet heraus, in Sanliurfa herrscht ein ziemlich alltägliches Treiben. Allerdings sollen gerade viele syrische Flüchtlinge in der Stadt leben, was mir nicht wirklich aufgefallen ist, da es mir schwer fällt jemanden als Syrer zu erkennen. Es war allerdings schon ein ziemlich eigenartiges Gefühl, sich in dieser scheinbaren Normalität zu befinden und zu wissen, dass 50 Kilometer weiter gerade ISIS den Sturm auf Ain al-Arab vorbereitet und die Amerikaner seit Tagen Bomben abwerfen.
Umzug zum kurdischen Ehepaar
Gestern bin ich vom Hotel ins Guesthouse Lizbon umgezogen, die beiden Traveller am Busbahnhof hatten mich neugierig gemacht. Die Unterkunft war herrlich gelegen in der Altstadt von Sanliurfa, kleine Gässchen winden sich dort zwischen alten Wohnhäusern und Geschäften hindurch und es ist offensichtlich, dass man bei der Planung damals eher Esel und Pferde statt dicker Autos im Sinn hatte. Meine Gastgeber waren Aziz und seine Frau Farida, ein kurdisches Ehepaar Mitte 60. Ich wurde sehr freundlich aufgenommen, bekam Tee serviert und Aziz winkte mich ins Wohnzimmer, um mit ihm ein wenig fernzusehen.
Später zog ich nochmal los um die Stadt weiter zu erkunden. Ich lief über den Basar, wo es allerlei Farben und Gerüche zu entdecken gab. Immer wieder schön, auch wenn es nach fast einem Monat Türkei nicht mehr ganz so neu für mich ist. Hinter dem Basar stieß ich auf einen Hügel, auf dem sich kleine Häuschen und Hütten den Hang hoch zogen. In Brasilien würde man sowas wohl Favela nennen und energisch davon abraten einen Fuß hinein zu setzen. In Sanliurfa hatte ich nichts dergleichen gehört, also lief ich einfach immer weiter. Die Gegend dort schien viel ärmer als das, was ich bisher gesehen hatte, Touris sah ich auch nicht mehr. Ich lief einfach immer weiter und weiter.
Schafherden in Sanliurfa
Kinder spielten auf der Straße, kamen angesprungen und fragten wieder und wieder: „Where are you from? Whats your name?“ Wohl die einzigen beiden Sätze, die sie auf englisch konnten, aber sie freuten sich jedes Mal so richtig, wenn ich darauf antwortete. Es war, als wäre ich in eine andere Welt eingetaucht, den Teil der Stadt, der nicht auf dem Plan der Touristen auftaucht. Manchmal sind das die interessantesten Momente beim Reisen. Ich sah Schafherden mitten zwischen den Häusern stehen, die sind wohl für das am nächsten Wochenende stattfindende islamische Opferfest gedacht, an dem jede Familie ein Schaf schlachten soll.
Als ich danach zu meinen kurdischen Gastgebern zurück kam, aßen wir zusammen und Aziz erzählte ein wenig vom kurdischen Leben. Mich interessierte, wie seine Meinung zur kurdischen Unabhängigkeit war, nachdem mir Zafer in Istanbul vor vier Wochen erzählt hatte, dass er sich kein Leben in einem eigenen Kurdenstaat vorstellen könnte. Aziz war viel traditioneller eingestellt, aber interessanterweise wünschte auch er sich keine komplette Unabhängigkeit, sondern nur eine autonome kurdische Verwaltung innerhalb eines gemeinsamen Staates mit der Türkei.
Schließlich kam Aziz darauf zu sprechen, wie eine kurdische Ehe funktionieren würde, wobei das wahrscheinlich auch für Teile des Islams über die kurdische Kultur hinaus gilt. Die Frau müsste auf jeden Fall als Jungfrau in die Ehe gehen, sonst würde sie niemand mehr heiraten und sie müsste bis an ihr Lebensende bei ihrer Mutter bleiben. Nach einer Hochzeit kämen am Tage nach der Hochzeitsnacht beide Familien zusammen und die Frauen schauten, ob Blut auf dem Bettlaken wäre, dies wäre der Beweis für die Jungfräulichkeit. Ich fragte ungläubig, ob das auch heute noch so wäre. „Yes, it’s like this. Different culture.“ antwortete Aziz.
Im Namen der Ehre
Ich fragte, was denn wäre, wenn sich die beiden später wieder trennen würden. Aziz meinte, das käme praktisch nicht vor. Bei Problemen würden die Familien zusammenkommen und so lange mit den beiden reden, bis die Probleme gelöst seinen. Oder der Druck zu groß würde, dachte ich. Falls die Frau in der Ehe untreu würde, fuhr er fort, wäre das ein sehr großes Problem, ihre Familie müsste sie dann töten. Mir schauderte und ich fragte, ob das auch für Männer gelten würde. Manchmal, meinte Aziz, aber meistens seien es Frauen. Ich überlegte, wie lautstark ich protestieren sollte und sagte schließlich, dass es sicherlich gute Seiten an den alten Traditionen gäbe, aber Ehrenmorde ganz und gar nicht akzeptabel wären. Aziz meinte, Probleme in Ehen kämen so gut wie überhaupt nicht vor. „It’s like this. Different culture.“ Dann verabschiedete er sich um ins Bett zu gehen. Ich tat das gleiche mit ziemlich gemischten Gefühlen auch.
Heute Morgen frühstückte ich nochmal zusammen mit Aziz und Farida, das Gespräch drehte sich dabei um weit weniger kontroverse Themen wie das Nomadenleben, das die beiden früher gelebt hätten und ihre Familie, die heute über die ganze Türkei verstreut lebt. Ich habe nun meine Sachen gepackt und Aziz wird mich gleich zum Busbahnhof fahren, von wo aus ich mein nächstes Ziel ansteuern werde, das Bergörtchen Mardin.