Aber der Reihe nach. Wir hatten uns ja genau erkundigt, wieviele Bolivares man braucht, um nach Kolumbien zu kommen, es sollten für jeden 300 sein (30 Euro). Wir hatten zusammen noch knapp 700 (70 Euro) und noch 10 Dollar als Puffer, also kein Problem, dachten wir. Los ging’s von Coro nach Maracaibo mit dem ersten Por Puesto (Sammeltaxi). Alles easy, bis auf dass der Fahrer die Klimaanlage auf gefühlte 5 Grad drehte und wir uns bibbernd in dicke Pullover hüllen mussten.
Von Maracaibo aus sollte uns das nächste Por Puesto eigentlich nach Maicao bringen, den ersten Ort auf kolumbianischer Seite. Wir landeten in einer uralten amerikanischen Karre, die diesmal zum Glück keine Klimaanlage hatte. Der Preis war auch ok, 100 Bolivares (10 Euro), das lag noch gut in unserem Budget. Johannes und ich saßen auf der Rückbank, daneben noch eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter auf dem Schoß. Sie erzählte, dass sie in Kolumbien geboren ist, aber in Venezuela aufgewachsen und nun ihre Familie in Kolumbien besuchen will, die sie 10 Jahre lang nicht mehr gesehen hat. Auf dem Vordersitz saß eine vielleicht 50jährige Frau mit ihrem erwachsenen Sohn. Sie hatte eine ziemlich raue, schnoddrige, Art und sprach so schnell spanisch, dass ich selbst mit mehrmaligem Nachfragen nur wenig verstand. Sie schien das Herz aber am rechten Fleck zu haben. Unser Fahrer war, wie die meisten seiner Kollegen in Venezuela, so maulfaul, dass man ihn mehrmals ansprechen musste, um überhaupt den Hauch einer Reaktion zu bekommen.
So ungefähr 20 km vor der Grenze passierten wir den ersten Checkpoint. Anhalten, Pässe zeigen, angestarrt werden, Kofferraum auf, alles ok, bis auf… die junge Mutter hatte weder einen Pass, noch einen Ausweis dabei, nur einen seltsamen Wisch mit einer Unterschrift, den sie den Polizisten vorhielt und irgendwas unverständliches dazu erklärte. Kurze Diskussion, dann wurde wir durchgewunken und fuhren weiter. Diese Frau wollte tatsächlich ohne irgendwelche Papiere die Grenze nach Kolumbien überqueren! Das kann ja heiter werden, dachten wir. Frau Schnodderschnute diskutierte mit ihr, ich verstand nicht allzu viel, aber es so so aus, als würde sie nicht glauben, dass sie ohne Papiere über die Grenze käme.
Je näher wir der Grenze kamen, um so öfter passierten wir Checkpoints. Mal durften wir einfach durchfahren, mal mussten wir die Pässe zeigen und immer wieder gab es wieder die gleiche Diskussion über die nicht vorhandenen Papiere der Mutter. Aber letztendlich durften wir jedes Mal weiter.
Das Grenzgebiet ist ziemlich gefährlich, es war offensichtlich, dass die Leute dort bettelarm waren, in verfallenen Hütten hausten und verzweifelt versuchten, am Straßenrand irgendwas zu verkaufen. In dem Gebiet sind ziemlich auch viele Schmuggler und Rebellen unterwegs, auf jeden Fall kein guter Ort, um als Ausländer mit sämtlichem Gepäck herumzulaufen. Mussten wir ja auch nicht… dachten wir zumindest. Doch plötzlich fanden wir uns am Ende einer LKW-Schlange wieder, die sich keinen Zentimeter mehr bewegte. Frau Schnodderschnute meinte, dass es hier nicht mehr weiter ginge, wir aussteigen müssten und uns ein Stück weiter ein neues Por Puesto suchen.
Uns blieb nun nichts anderes übrig, als das zu tun und mitzulaufen. Die junge Mutter hatte offensichtlich viel zu viel Gepäck dabei, um ihr Kind und ihre Sachen zu Fuß zu transportieren. Johannes und ich boten ihr an, eine schwere Kiste zu tragen und hatten dadurch gleich einen Stein unseren drei Einheimischen Begleitern im Brett. Wir liefen los, nach der ersten Kurve sahen wir, dass die Straße, so weit man schauen konnte, von LKWs blockiert war. Wir liefen weiter, ab und zu versperrten die Ärmsten der Armen die Straße mit einem Seil und wollen Geld von denen, die vorbei wollten. Wir krochen einfach drunter durch und liefen weiter.
Die Kiste wurde nun langsam unerträglich schwer, aber was sollten wir machen, wir konnten sie ja kaum der armen Mutter wieder in die Hand drücken, die ihr Kind auf dem Arm hatte und eine Tasche in der anderen Hand. Irgendwann passierten wir schließlich den letzten stehenden LKW und die Straße war wieder frei.
Ich vertraute unseren drei einheimischen Mitfahrern inzwischen ganz gut und sie respektierten uns als freundliche Kistenträger ebenfalls. Es war unser Glück, dort nicht alleine durch zu müssen, denn Frau Schnodderschnute verhandelte mit den nächsten Por Puesto Fahrern hart und heftig, so dass wir zu einem einigermaßen angemessenen Preis weiter fahren konnten. „Weiter“ war aber leider nicht sehr weit, denn nach einigen Kurven versperrte der nächste LKW die Straße. Ich konnte in Erfahrung bringen, dass es ein Problem mit dem Sprit-Nachschub in der Gegend gab und sich deswegen nichts mehr bewegte.
Also wieder raus, Kiste schleppten, diesmal nur ein paar Meter, dann war die Straßen wieder frei, auf zum nächsten Por Puesto, Verhandlung durch Frau Schnodderschnute und ab Richtung Grenze. Allerdings wollte uns der Fahrer nicht über die Grenze drüber fahren, sondern nur bis zum letzten Ort auf venezuelanischer Seite. Unsere Bolivares wurden langsam bedrohlich knapp, dieses Chaos hatten wir nicht mit einberechnet und wir wussten, dass wir bei der Ausreise aus Venezuela noch 30 Bolivares (3 Euro) Ausreisesteuer bezahlen mussten.
Als wir im Grenzort ankamen und ausstiegen schlug uns eine seltsame Stimmung entgegen. Der Ort war total heruntergekommen, seltsame Gestalten bewegten sich auf der Straße und starrten uns mit großen Augen an. Drei Verkäuferinnen an einem Essensstand fragten, wo wir herkämen. Frau Schnodderschnute meinte „Son alimanes!“ („Es sind Deutsche!“) „Son animales?“ („Es sind Tiere?“) fragten sie? Von Deutschen hatten sie noch nie etwas gehört. Zwei besoffene Typen boten uns an, uns auf ihrem Pick-up über die Grenze zu bringen, wir lehnten ab. Die Por Puestos, die dort herumstanden, waren so teuer, dass sich Frau Schnodderschnute weigerte, diese Preise zu zahlen. Zum Glück, denn wir gingen finanziell nun schon komplett auf dem Zahnfleisch. Schließlich fanden wir einen Fahrer, der uns für 50 Bolivares (5 Euro) pro Person nach Maicao auf kolumbianischer Seite bringen wollte. Wir stiegen ein und waren überglücklich, denn uns blieben nun noch 60 Bolivares übrig, haargenau der Betrag, den wir als Ausreisesteuer bezahlen mussten… glaubten wir zumindest.
An der Grenze angekommen dann der Schock… die Ausreise sollte 90 Bolivares pro Person kosten! Wir erklärten dem Beamten, dass wir zusammen nur noch 60 hätten und ob er nicht eine Ausnahme machen könne. Er schüttelte nur den Kopf. Zahlen oder in Venezuela bleiben! Wir zogen unseren letzten Trumpf, legten unsere Not-10-Dollar auf den Tisch und fragten, ob das ok sei. Er schaute uns an und meinte nur: „Jetzt fehlen noch 80 Bolivares!“ Wir flehten ihn an, uns weiter zu lassen und versicherten ihm, absolut nichts mehr dabei zu haben. Doch er blieb hart. Das war es nun also. Gestrandet im supergefährlichen Grenzgebiet ohne einen einzigen Bolivar, um entweder weiter oder zurück zu kommen. Wir waren sozusagen Freiwild für Entführer, Erpresser oder wer auch immer sich in der Gegend herumtrieb.
Doch plötzlich hörte ich neben mir eine Stimme fragen: „Wieviel fehlt euch?“ Ungläubig schaute ich zur Seite und sah einen Mann im mittleren Alter. „Wir haben nichts mehr und kommen nicht weiter!“ antwortete ich. „Wieviel fehlt euch?“ wiederholte er. „80 Bolivares“, sagte ich. Er holte sein Portemonnaie aus der Tasche und legte ohne mit der Wimper zu zucken einen 100er Schein auf den Tisch. Ihn hatte der Himmel geschickt! „Ich bin Kolumbianer, Gott schütze euch!“, sagte er, gab uns die Hand und verschwand. Wir konnten es kaum glauben, das war komplett verkehrte Welt! Auf der ganzen Odyssee hatten uns die Leute gierig angestarrt, weil sie uns für reiche Gringos hielten, und nun rettete uns ein Kolumbianer, für den 80 Bolivares sicher viel Geld ist, einfach so den Arsch, ohne etwas dafür haben zu wollen.
Nun konnten wir weiter mit unseren drei einheimischen Begleitern über die Grenze, die Mutter kam tatsächlich ohne Papiere durch, mit ihrem seltsamen Wisch und noch einigen Diskussionen. In Maicao angekommen verabschiedeten wir uns und stiegen am Busterminal aus.
Es war einfach superleichtsinnig, mit einem Budget, das Arsch auf Kante genäht war, die Grenze überqueren zu wollen in einem Land, in dem eigentlich immer irgendwas schief geht und an einer Grenze, an der man auf keinen Fall als Ausländer stranden sollte. Als letzten Notnagel hätten wir vielleicht noch die paar kolumbianischen Pesos, die wir für die Weiterfahrt dabei hatten, irgendwo umtauschen und uns damit retten können, aber lustig wäre das alles nicht geworden.
Wir waren froh, als wir unser Busticket nach Santa Marta in der Hand hatten, wo wir sicher wieder an neues Geld kommen würden. Der Bus war günstiger als gedacht, so dass wir noch einige kolumbianische Pesos übrig hatten. Plötzlich tauchte unser Retter am Busterminal wieder auf. Unser übriges kolumbianisches Geld war ungefähr so viel, wie er für uns bezahlt hatte. Ich wollte es ihm geben, aber er winkte nur ab, gab uns beiden die Hand und sagte: „Gott schütze euch!“ Dann verschwand er.